In Stein gemeisselt
Aus der Reihe: Geschichten aus Indien
vom 30. März bis 02. April
Warum will ich nach Aurangabad, frage ich mich? Vielleicht ist es wegen der Höhlen von Ajanta, die man von dort aus besuchen kann. Vielleicht ist es auch weil es zwischen Nagpur und Mumbay liegt und ich überhaupt keine Lust habe Mumbay zu besuchen. Naja, Hauptsache weg von Nagpur und Chandrapur, sage ich mir. Diese Städte haben für mich nicht viel zu bieten, ausser Essen und Übernachtung.
Dann wird’s also Aurangabad. Über booking.com wo ich normalerweise alle Unterkünfte für die Reise buche, finde ich nichts Ansprechendes für mich. Also schlage ich im Reiseführer und bei google nach. Aha, da gibt’s doch noch was für mich: das Panchavati Hotel. Scheinbar ein gutes Budgethotel mit einem guten Restaurant im Erdgeschoss. Ok, buchen wir das. Aber das ist nicht sooo einfach, denn über die Website kann ich nur eine Buchungsanfrage machen.
Der Bus würde hier um 15:00 Uhr losfahren und um 03:00 Uhr morgens in Aurangabad ankommen.
Ok, denke ich, versuchen wir unser Glück. Ich fülle das Formular auf meinem Handy aus und schicke es ab. Krishna sei Dank habe ich eine Indische SIM Karte mit der ich überall den Luxus einer mobilen Internetverbindung geniesse – ausser natürlich in Moharli 😉
Ein TukTuk bringt mich zum Abfahrtsort des Langstreckenbusses. Es ist eine seltsame Gegend. Eine verlassene Strasse. Nur eine Autowerkstatt scheint da zu sein. Vor ihr sitzen ein paar Männer und tippen auf ihren Handys rum. Als ich an ihnen vorbeigehe, sehen sie mich an. Ich grüsse sie und gehe weiter. Ein Gefühl der Unsicherheit beschleicht mich. Nach einiger Fragerei finde ich den Bus der „Mahalaxmi“ Gesellschaft. Er wird derzeit noch ein wenig geputzt. Ich bin ja auch zu früh dran. Es ist erst 14:30 Uhr. Am Ende der Strasse ist ein kleiner Stand mit Getränken und Snacks. Auf der Bank neben dem Stand liegt ein Mann. Neben ihn setze ich mich auf die Bank um das drückende Gewicht meines grossen Reiserucksacks nicht mehr auf meinen Schultern spüren zu müssen.
Die zwei Typen, an denen ich vor der Werkstatt vorbeigelaufen bin, kommen nun auch zum Stand. Beruhige dich, denke ich. Wenn du reagieren musst, dann musst du eben reagieren, aber erst mal sehen was passiert. Der Mann, der auf der Bank liegt, setzt sich nun auf.
Die anderen zwei Männer setzen sich neben mich hin.
Einer trägt eine Sonnenbrille. Wenn das ein Überfall werden sollte, hatten sie sich eine unbefahrene Strasse ausgesucht. Aber Zeugen waren hier doch einige. Natürlich ist es ganz anders. Der kräftige Mann, der sich neben mich hingesetzt hat, fängt ein Gespräch an. Er scheint sehr neugierig zu sein und ist einer der vielen Inder, die zu schwärmen anfangen, wenn sie hören, dass ich aus der Schweiz bin.
„Switzerland is the dreamcountry of every Indian!“
, sagen sie dann. Die Schweiz ist also das Traumziel eines jeden Inders. Ja, das hörte ich sehr oft in Indien. Wenn es auch das eine oder andere Mal passiert ist, dass die guten Menschen die Schweiz mit Neuseeland verwechselt haben, hahaha. Das fällt dann auf, wenn sie anfangen von den Schweizer Stränden am Meer zu erzählen, hahaha. Immer mehr der Männer um uns herum kommen näher um sich die Bilder der Schweiz anzusehen, die ich auf meinem Handy zeige. Es sind vor allem Bilder von Wanderungen, die ich letztes Jahr mit Freunden unternommen habe. Zwischendurch muss ich aufpassen, dass ich ihnen nicht eines der tausenden von Fotos von Lim zeige. Das geht die nämlich nix an 😉
Und einmal mehr gebe ich meine Indische Handynummer irgendwelchen Unbekannten weiter. Endlich ist der Bus bereit und ich kann mich von der Männermasse – mit Frauen komme ich ja nie ins Gespräch – lösen. Meine Erfahrungen in Indien bezüglich Frauen sind wirklich krass. So selten ergibt sich eine Gelegenheit mit einer Frau zu sprechen.
Die Kellner in den Restaurants sind Männer, die Kondukteure im Zug und Bus sind Männer, das Hotelpersonal ist männlich – bis auf die Putzequippe vielleicht, aber die sieht man ja nie, die Verkäufer und Taxifahrer sind Männer….Mann, Mann, Mann, was soll das, denke ich oft.
Dann erinnere ich mich an unseren Aufenthalt in Agra – mit uns meine ich Döme und mich. Dort sahen wir an einem Feiertag, ich glaube es war der Beginn vom Holifest, aussergewöhnlich viele Frauen auf der Strasse. Wo waren sie die ganze Zeit gewesen? In den Häusern? Passten sie auf die Kinder auf? Machten sie den Haushalt? Ich weiss es nicht.
Im Bus gibt es keine Sitz- sondern Liegeplätze. Ich lege mich hin und merke, wie die Klimaanlage zu arbeiten beginnt. Im Moment bin ich froh darüber, denn in Maharashtra ist es derzeit abartig heiss. Täglich schnellt das Thermometer über 40° hinaus. Die nächsten 12 Stunden würde es sehr holprig zu und hergehen, wie ich herausfinden sollte. Ich versuche zu schlafen und das klappt auch für einige Minuten, doch die Lieblingsbeschäftigungen des Busfahrers reissen mich immer wieder aus der Traumwelt: hupen und bremsen. Das Horn ist unglaublich nervtötend. Es hört sich an wie das eines Postautos unter Drogen. Ich verfluche die Indische Fahrweise und fange an auf meinem Handy rumzuspielen.
Was ist jetzt los, denke ich, als der Bus abrupt zu einem Halt kommt und die Tür sich öffnet. Aha, Pinkelpause. Viele Männer rennen aus dem Bus und erledigen ihr Geschäft am Strassenrand. Während dieser Teil der Erde sich von der Sonne wegdreht, verrichte ich ebenfalls mein Geschäft am Strassenrand. Als es weitergeht versuche ich wieder ein wenig zu schlafen. Diesmal höre ich auch Musik. Irgendwann stoppen wir wieder. Immer wenn der Bus stoppt gilt es herauszufinden, warum. Abendessen? Einkaufsstopp? Pinkelpause? Die Fahrer teilen einem dies ja nur in Hindi mit. Als ich merke, dass es eine längere Pause zu sein scheint, ziehe ich meine Schuhe an. Auf der anderen Seite des Ganges öffnet sich der Vorhang des unteren Abteils. Ein junger Mann ist darin, der nun ebenfalls seine Schuhe anzieht. Er sagt mir, dass es sich um eine Essenspause handelt. Cool, denke ich. Ich habe nämlich Hunger. Das letzte Mal habe ich um 13:00 Uhr oder so gegessen. Jetzt war es irgendwie 22:00 Uhr und den ganzen Junk Food den ich für die Fahrt eingepackt hatte war schon weg. Er fragt mich, ob ich auch zum Essen komme. Ja, natürlich, sage ich.
Der grosse Mann heisst Abijeet, ist 23 Jahre alt und ist unterwegs nach Pune. Diese Stadt liegt noch weiter entfernt als Aurangabad. Er will dorthin weil er Morgen ein Vorstellungsgespräch da hat. Sein Studium als Techniker hat er abgeschlossen und nun möchte er Arbeit haben. Er würde wahrscheinlich um 05:00 Uhr Morgens oder so in Pune ankommen. Ob er fit genug für das Gespräch sein würde, frage ich. Er denke schon, sagt er. Wir bestellen Essen und unterhalten uns weiter. Sein Englisch ist für einen Inder sehr gut und wir können über vielfältige Themen diskutieren. Für mich gibt’s wiedermal Panir Masala. Panir ist Käse und der wird in einer mehr oder weniger flüssigen Tomaten Masala Sauce serviert. Dazu esse ich Naan, also Fladenbrot. Ich reisse Stücke des Brotes ab und tauche sie in die Sauce um sie dann zu essen. Lecker 😛
Die meisten Inder sind voll direkt und sprechen einen ohne weiteres an, wenn sie etwas wissen wollen. Abijeet war voll nett und wir haben uns noch ein bisschen unterhalten. Auch mit dem Kellner und dem Busfahrer, die plötzlich neugierig geworden sind und auch etwas über mich erfahren wollen. So fragt mich letzterer auch, wo in Aurangabad ich aussteigen möchte. Bei der Baba Petrol Pump, also der Baba Tankstelle, sage ich. Er sagt, da wollte er sowieso anhalten. Super Sache. Die Fahrt geht weiter und ich hoffe, dass ich nun etwas besseren Schlaf finde. Leider ist dem nicht so, denn die Strecke wird sehr holprig und weiterhin lenkt der Fahrer den Bus als ob es sich um einen GoCart auf der Rennstrecke handelt. Immer wieder bestimme ich mit google maps und dem GPS meinen Standort. In der Zwischenzeit haben auch die Mitarbeiter des Hotels geantwortet und meine Reservation bestätigt. Sie wissen nun auch, dass ich um ca. 03:00 Uhr morgens ankommen werde. Sie würden einen Fahrer schicken, der mich bei der Tankstelle abholt. Das klappt ja tiptop, denke ich.
Immer weiter nähern wir uns Aurangabad. So um 01:00 Uhr ist Schichtwechsel bei den Fahrern. Einer von ihnen kommt nach hinten und legt sich auf die Matratze neben meiner um zu schlafen.
Endlich erreichen wir Aurangabad. Ein Mitarbeiter der Busgesellschaft steigt mit mir aus um den Gepäckraum zu öffnen und mir meinen Rucksack zu geben. Zuvor hatte er ihn mit der Nummer meines Sitzes beschriftet – mit Kreide. Auch der Mitarbeiter des Hotels ist bereits da und wir fahren nur eine ganz kurze Strecke, bis wir es erreichen. Einchecken und schlafen, fertig.
Nach ausgiebigem Ausschlafen stehe ich auf. Das Bett war nicht unbequem. Heiss ist es in Aurangabad. Das finde ich heraus, nachdem ich mich zu Fuss aufmache. Aber erst organisiere ich noch eine Tour zu den Höhlen von Ajanta, die ich Morgen besuchen möchte. Dazu später mehr. Die Sonne brennt auf meinen Körper als ich einer geschäftigen Hauptstrasse in Aurangabad entlanglaufe. Die Hitze macht mich fast benommen und ich passe mein Tempo an. Mein Ziel ist die Bibi Qa Maqbara, ein Mausoleum welches Prinz Azam Kahn 1679 für seine Mutter Rabia-ud-Daurani bauen liess. Es hat allerdings einen zweiten, mehr touristischen Namen: Mini Taj. Also der Taj Mahal im mini Format, was auch ziemlich genau zutrifft. Ein wunderschönes Gebäude.
Den Sonnenuntergang hier im Garten dieses wundervollen Gebäudes zu erleben ist sehr schön. Meine Gedanken schweifen beim Anblick ab. Wie war das Leben hier wohl vor hunderten von Jahren? Wie hat das Land wohl ausgesehen? Ich finde keine Antwort. Es sind einige Indische Touristen zugegen. Natürlich werde ich um ein paar Fotos gebeten, hehe. Das bin ich mir inzwischen total gewöhnt und schon oft merke ich, welche Leute mich in den nächsten Sekunden nach einem Foto fragen werden, haha. Zum Abschluss mache ich dann noch ein Familienfoto, welches ich ihnen später per E-Mail schicken würde.
Als ich die Anlage verlasse, entschliesse ich mich nicht zurückzulaufen sondern ein TukTuk zu nehmen. Da stehen ja auch schon etwa 20 und davor ihre Lenker, die um die Kundschaft buhlen. Der erste spricht mich an. Die normalen Sätze wie:
„TukTuk, Sir?“
„Where you going, Sir?“
„You want TukTuk, Sir?“
Zur Baba Petrol Pump, sage ich. 200 Rupien, sagt einer. Ich lache laut und gehe einfach weiter. Wenn die Fahrer mit unrealistischen Preisen um sich werfen ist es oft eine gute Idee einfach zu lachen und weiterzugehen. Komischerweise folgen sie einem dann und sind bereit den Preis anzupassen. So einige ich mich mit einem hartnäckigen Hund, der einfach neben mir herfährt und weiter verhandeln will auf 100 Rupien für die Fahrt – 1.30 CHF also. Ich bin bereit etwas mehr als Einheimische zu zahlen, da ich aus einem Land mit stabiler Währung komme und ein Vielfaches eines hier durchschnittlichen Monatseinkommens verdiene – ok momentan ja auch nicht, aber ja. Doch ich bin nicht bereit das drei- oder gar zehnfache zu bezahlen. Denn das empfinde ich als rassistisch und zwar mir gegenüber.
Japanische Touristen in der Schweiz müssen ja auch nicht 20 Franken für eine Busfahrt von Triengen nach Sursee bezahlen, oder? Sie bezahlen gleich viel wie Frau Müller aus Triengen, fertig. Das Restaurant im Hotel Panchavati ist vorzüglich und ich gönne mir auch ein Bier zum Abendessen. Es befinden sich noch zwei andere Ausländer im Lokal. Eine asiatisch aussehende Frau steht von ihrem Tisch auf und kommt zu mir rüber.
„Hey, do you want to see the Ajanta caves?”,
fragt sie mich. Ob ich die Höhlen von Ajanta sehen möchte. Ja, sage ich. Für Morgen habe ich eine Tour gebucht. Ob sie mitkommen könne, fragt sie. Natürlich, sage ich. Wir würden dann den Tourpreis halbieren können. Dann setze ich mich an den Tisch zu Hope, der asiatisch aussehenden Frau, die aus New York kommt und Imran, dem Briten aus Bath. Hope ist von Chinesischer Herkunft, aber in den USA geboren. Imran heisst mit Nachnahmen Ahmed. Seine Eltern stammen aus Bangladesch. Er spricht jedoch einen perfekten Britischen Akzent und wohnt seit seiner Kindheit in England, wo er Lehrer ist.
Wir tauschen uns aus und trinken ein paar Bier. Dann geht’s ab ins Bett. Morgen früh würden wir die Höhlen von Ajanta besuchen!
Nach einem kurzen Frühstück im Restaurant geht’s los. Unser Fahrer für heute heisst Rajkumar. Die Fahrt zu den Höhlen würde 3-4 Stunden dauern und Hope und ich tauschen uns auf dem Rücksitz aus. Sie ist sehr interessiert an Spiritualität und dem inneren Ich. Ich erzähle ihr von meinen Erfahrungen und das Gespräch ist sehr spannend sodass die Fahrtzeit im Nu vergeht. Wir kommen auf einem grossen Parkplatz an und machen uns dann zu Fuss auf, durch all die kleinen Verkaufsstände und Läden, die Souvenirs anbieten. Mit einem Shuttlebus geht’s zu den Höhlen. Zu Fuss besichtigen wir sie. Apropos: da es sich um Buddhistische Gebäude handelt, müssen wir bei den meisten die Schuhe ausziehen. Mit primitiven Werkzeugen und Manneskraft haben buddhistische Mönche vor Jahrhunderten Höhlen in den Fels geschlagen und sie zu Klöstern und Tempeln geformt. Diese Arbeit und das Resultat davon sind atemberaubend:
Was motiviert Menschen dazu so etwas zu tun? Woher kommen die Kraft und die Ausdauer? Einmal mehr stelle ich fest, zu welchen Taten der Glaube Menschen bewegen kann.
Hope und ich essen zu Mittag. Dann geht’s zurück nach Aurangabad. Beim gemeinsamen Abendessen mit Imran trinken wir noch ein paar Bier und quatschen ein wenig. Am nächsten Tag geht’s für die beiden weiter. Hope geht nach Pune und Imran nach Mumbai.
Ich möchte noch ein wenig in Aurangabad bleiben. Ich möchte noch nicht weiter. Ich weiss erstens nicht wohin und zweitens habe ich keine Lust schon wieder meinen Rucksack zu packen. Das Panchavati ist einigermassen günstig, also gönne ich mir noch ein paar Tage. Ich versuche Lim dabei zu helfen eine Praktikumsstelle zu finden, schreibe E-Mails an Firmen und versuche mit seiner Universität Kontakt aufzunehmen um herauszufinden, wann das Praktikum genau beginnen soll, wann der letzte Studientag davor sein würde und wie lange alles dauern soll. Die Uni, an der er studiert, die Tarlac State University, kurz TSU, ist eine eigene Geschichte und ich könnte einen ganzen Blogeintrag nur darüber schreiben – was ich vielleicht noch mache, hahaha.
An einem anderen Tag entscheide ich mich, wohin ich möchte: nach Malvan, an den Strand. Beim Reisebüro neben dem Hotel erkundige ich mich, wie ich am besten dorthin komme. Mit dem Nachtbus nach Kolhapur und von dort aus mit lokalen Busen nach Malvan, sagt man mir. Wie lange, frage ich.
„About 10 hours.“,
erklärt man mir. Ich weiss nicht, ob ich nochmal 10 Stunden Holperfahrt überlebe, sage ich. Dann kommt eine überraschende Bemerkung: die Strasse nach Kolhapur sei viel, viel besser als jene von Chhandrapur nach Aurangabad, sagt man mir. OK, denke ich. Dann versuchen wir das nochmal mit dem Sleeper Bus. Ein TukTuk bringt mich für 70 Rupien zum Büro der Busgesellschaft, wo ich mein Ticket kaufen kann. Der Verkäufer ist nicht besonders freundlich, aber er tut seinen Job. Ein anderer Typ betritt das Büro. Wir kommen ins Gespräch. Die üblichen Fragen und Antworten. Ich zeige ein paar Bilder aus der Schweiz.
Er heisst Tusif und ist Techniker, oder wie es im Ausland oft heisst „Engineer“, was mit einem Ingenieur in der Schweiz – in den meisten Fällen – nicht wirklich vergleichbar ist. Tusif fragt mich ob ich sein Büro sehen möchte, welches hier in Aurangabad ist. Ich denke mir nicht viel dabei und verlasse mich auf meinen Instinkt.
Was hätte ich sonst zu tun?
Mit seinem Roller machen wir uns auf. Er bringt das Fahrzeug in einer Seitenstrasse zum halt. Das Büro ist in einem Einstöckigen Gebäude, von einer Mauer umgeben, wie viele Häuser hier. Als er das Aussentor öffnet beschleicht mich ein seltsames Gefühl. Vorsicht ist nun angebracht denke ich. Ich spüre, dass hier Hintergedanken im Spiel sind. Welche, weiss ich noch nicht. Das automatische Sicherheitsprogramm startet sich.
Er bietet mir Wasser an. Ich habe gesehen wie er es ausgeschenkt hat. OK, ich trinke es. Nun etwas Süsses. Das Sicherheitsprogramm sagt nein. Also lehne ich höflich ab, indem ich sage, dass ich keine Süssigkeiten esse. Es könnte mit irgendeiner Substanz versetzt sein, die mich benommen macht oder mich betäubt. Das wäre dann die Gelegenheit mich auszurauben oder sonst was mit mir zu machen. Was ist seine Motivation, schiesst es mir immer wieder durch den Kopf? Was ist die Absicht? Ist er einfach nur wie die meisten Inder, mit denen ich Kontakt habe, neugierig? Nein, sagt mir mein Gefühl, da ist mehr.
Auf seinem Laptop zeigt er mir ein paar E-Mails und ein paar seiner Unterlagen. Er arbeitet mit Klimaanlagen. Etwas mehr Smalltalk. Nun will er wissen, ob ich eine Freundin habe, oder verheiratet bin. Ich beabsichtige nicht ihm die Wahrheit zu sagen. Er geht kurz in einen anderen Raum und kommt wieder. Ich entschliesse mich, nicht mehr lange hier zu bleiben. Das teile ich ihm mit und nun bittet er um ein Selfie mit mir. OK, denke ich, das ganz normale Programm in Indien. Doch dieses Selfie ist nicht das übliche. Er schreitet an mich heran, hält sein Handy in die Höhe, ich blicke in die Kamera und in diesem Moment presst er seinen Unterleib an mich.
Ich bin wie gelähmt und reagiere nicht.
Er macht ein Foto. Dann ein weiteres, weil er mit dem ersten nicht zufrieden ist. Dann will er noch eins machen und immer wieder reibt er seinen Unterkörper an meiner rechten Hüfte. Nach dem dritten Bild sage ich, es reicht. Ich löse mich von ihm. Er will noch mehr Selfies machen, das will ich aber nicht. Nun ist es höchste Zeit hier zu verschwinden. Langsam kommen meine Sinne wieder und ich weiss, dass ich hier nichts verloren habe und so schnell wie möglich weg muss. Als er mich um noch mehr Bilder bittet sage ich in einem bestimmten Ton, nein. Ich kann meine nächsten Schritte nicht absehen. Ich bin nicht fähig zu antizipieren. Ich weiss nur, dass ich aus dieser Situation raus will, koste es was, es wolle. Er bringt mich zum Tor. Dort versucht er wieder mich zu berühren. Ich weiche aus und tue so, als ob seine Handlung nicht geschehen wäre. Dann fragt er mich, ob er mich zum Hotel fahren soll. Dankend lehne ich ab und mache mich zu Fuss auf den Weg.
Ahh, frei, denke ich. Ausserhalb der Gefahr. Als ich weglaufe, beschleicht mich ein anderes Gefühl. Mein Ego. Es sagt: warum hast du dich nicht mit Gewalt gewehrt? Weshalb hast du ihn nicht entschieden weggestossen oder bedroht? Ich finde keine Antwort.
Im Hotel angekommen fressen mich die Gedanken an diese Situation auf. Ich versuche zu rekonstruieren und herauszufinden, weshalb ich so reagiert habe. Für mich finde ich heraus, dass ich in meinem tiefsten Inneren ein Verhältnis zur Anwendung von körperlicher Gewalt habe. Kaum je in meinem Leben habe ich körperliche Gewalt gegen einen anderen Menschen angewendet. Zu sehr fürchte ich mich vor meinem eigenen Handeln. Meine Exkursion in mein Inneres versetzt mich zurück in eine Situation im Kindergarten, als ein anderes Kind mich schlägt und zurückdrängt. Immer weiter laufe ich rückwärts, doch anstatt mich zu verteidigen, fange ich an mich selbst zu schlagen und sage zu ihm:
„Schau, ich schlage mich selbst.“
Dies tue ich in der Hoffnung, dass er aufhört. Meine Furcht vor mir selbst und dem, was ich anrichten könnte, wenn ich Gewalt anwende ist zu gross. Genauso gross wie mein Verlangen nach Harmonie und Frieden.
Ich telefoniere mit Lim und spreche mit ihm darüber. Er versucht mir zu helfen und spricht mir Mut zu. Ungewollt macht er die Situation auch komisch, indem er spontan erklärt, dass er Inder hasst, weil sie stinken und ihre Körperhygiene furchtbar sei, haha. Als später am Abend jemand an meine Zimmertür klopft, weiss ich bereits, wer es ist. Er. Tusif. Er hat ein Hemd angezogen und Geschenke für mich gebracht. Nun weiss ich genau, was ich will. Ohne zu zögern, erkläre ich ihm kurz und bündig folgendes:
„You cannot come here. I don’t want your gifts. If you don’t leave immediately I will call the police.”
Das ist es. Dann schliesse ich die Tür. Er geht. Erschreckend genug, dass er ins Hotel gelassen wurde. Klar wusste er in welchem Hotel ich wohne, da ich es ihm heute gesagt hatte. Nach einigen Minuten gehe ich zur Rezeption um zu erklären, wer dieser Mann ist und sie zu bitten ihn auf keinen Fall wieder ins Hotel zu lassen. Man entschuldigt sich und damit ist die Sache gegessen.
Ich bin froh, als ich Aurangabad am nächsten Abend in einem Bus verlassen kann. Die Befürchtung, dass er am Busterminal auf mich warten könnte, hatte ich. Immerhin war er dabei, als ich mein Ticket gekauft habe. Meine Befürchtung wird nicht bestätigt. Das war meine erste Erfahrung dieser Art. Seither habe ich nichts mehr von Tusif gehört. Allah sei Dank.
PS: da fällt mir noch was ein. Praktisch in ganz Südostasien gibt es die Ladenkette 7 Eleven oder ähnliche. Das sind dann so kleine Convenience Shops, wo man alles Mögliche fast rund um die Uhr bekommt: Zigaretten, Alkohol, Esswaren, Süssigkeiten, Hygieneartikel und so weiter. Das praktische dabei ist, dass man nicht Artikel an verschiedenen Orten zusammenkaufen muss. So etwas hatten wir in Indien nie gefunden. So war ich total überrascht, als ich in Aurangabad bei einem Spaziergang diesen Laden gefunden habe. Die Indische Version von 7 Eleven 😉 Es gibt’s also doch!
Das wars mal wieder. Selten war ein Blogbeitrag von mir so privat und so intim. Danke fürs Lesen!